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Herbstlich(t)

herbstlicht

Der neunte Monat endete, und mit ihm schon wieder drei Viertel dieses denkwürdigen Jahres. Und der zehnte, der dem Namen nach der achte sein sollte, folgt ihm, noch bevor sein Vorgänger Worte findet. Weiße Seiten, Auslassungspunkte, zu viele Ideen, zu wenig Fertiges. Ich schwanke zwischen dem Wunsch, sinnvollere Notizen über den Monat anzufertigen, und der Überlegung, auf diesen Prozess gänzlich zu verzichten. Vielleicht sind die Lücken ohnehin interessanter. Nun ja. Ende Oktober also. Die fast rituelle Abstellung des Wassers beschließt das erste Jahr im eigenen Garten. Der Wasserwart verabschiedet sich mit Augenzwinkern und dem Wunsch eines “schönen Wochenendes oder schönen Winterschlafes”, und vielleicht hat er gar nicht so unrecht. Auch wenn die Bäume lang grün blieben, ist der Herbst nun längst Tatsache. Wieder häufiger die Tage, an denen man noch im Dunkel, gefühlt mitten in der Nacht, verschlafen unter den Küchenfenstern steht. Wieder häufiger die Tage, an denen man im Zwielicht wieder nach Hause kommt. Wieder durchlebt man jene Tage, in denen das Ende der Sommerzeit die subjektive Realität kurzzeitig in noch anderer Richtung durcheinanderbringt als dieses Jahr es ohnehin schon tut. Winterschlaf. Hinter den Mauern im Garten verblühen Rosen zum dritten Mal in diesem Jahr, während die Ernte bis auf den Rosenkohl weitestgehend eingebracht ist, die Beete schon brachliegen, das Vogelfutter im Spender schneller verschwindet als in den Wochen davor. Manchmal kann man den Kaffee noch draußen genießen, dann und wann in der Sonne, aber es wird früher und schneller kühl, und häufiger hängen regentropfenschwere Blüten der letzten Sonnenblumen über dem abgeernteten Grund. Der Vorrat an Bier, Milch, Grillgut schleicht aus, bevor der Frost erstmalig durch das Gemäuer der Laube kriecht. Einige Geräte sind gereinigt und verstaut, andere harren vergessen auf Wiederentdeckung im Frühjahr. Winterschlaf.

Schon wieder zwei Monate. Vieles der Zeit verstrich, wie es auch der Rest des Jahres tat, wie in diesen Tagen über jedem Monat geschrieben steht: Merklich weniger soziale Kontakte als üblich. Achtsamerer, bewußterer Umgang mit sich und anderen. Häufig Angst, manchmal realer, manchmal irrealer, zur Zeit wieder sehr real. Verkleinerte Reichweite. Auf der eigenen Landkarte bekommen viele weiße Flecken in nächster Nähe Farbe, Klang und Duft, bekommen vertraute Orte neue Facetten: Da sind die Bilder nebelschwerer Luft im Wald zwischen den schroffen Steinen des Elbsandsteingebirges, der Klang von hohem Regen, der Anblick und Duft von unzähligen Wassertropfen in immergrünem Moos. Da ist die braune Neiße, die durch ein ruhig geschwungenes Tal, durch Wiesen und in der Herbstsonne golden strahlende Waldstriche fließt. Da ist ein milder Blätter-Regen im Tharandter Forst, so still und weich wie der Schnee in Wintern kindlicher Erinnerung. Die Sehnsucht nach Meer und Ferne, nach der absoluten Stille vor der Höhe des Gletschers, nach dem flachen morgendlichen Meer mit der Silhouette der Großstadt am Horizont bleibt, aber sie tritt in den Hintergrund, für Augenblicke im Möglichen.

Es gibt erste freie Tage, langsame Tage in diesem Spätsommerfrühherbst, und volle, intensive Wochen. Leben zwischen Büro und wieder Home-Office. Der Präsenztag wird wieder gestrichen, der Weg zur Arbeit verkürzt sich wieder häufiger, reduziert sich auf den Gang hinter jene andere Tür, in den Raum, der sich mehr und mehr wie Arbeit anfühlt und in dem der Geruch von Kaffee und warm laufenden Computern hängt. Das Fenster ist wieder oder immer noch verdreckt. Gegenüber ziehen Menschen aus und andere ein, an der Ecke sitzen Studenten im Hippie-Look auf den Balkon hinter ihren Apple-Laptops und sinnieren hörbar über Gott und die Welt, die Bäume hinter dem gegenüberliegenden Giebel sehen jeden Tag etwas anders und doch jeden Tag gleich aus – oder andersherum? Zwischendrin neue Aufgaben, neue Themen, verschiedene Gesichter. Mehr Verantwortung, mehr Input, und manchmal der Tanz auf dem Drahtseil der eigenen (Un-)Fähigkeiten, schwankend und mit den Armen rudernd, um irgendwie Balance zu halten. Unsortierte Wahrnehmungen nach dem eigenen Neustart: Immer noch mehr innere Ruhe, mehr Zufriedenheit mit sich und dem eigenen Tun. Deutlich mehr Arbeit auf dem Tisch, und trotzdem weniger das Gefühl, unkoordiniert von Ereignissen getrieben zu werden, nurmehr planlos zu reagieren und in jedem Punkt wieder bei Null zu beginnen. Die sich langsam einstellende Wahrnehmung, ganz plötzlich auch die Verantwortung nicht mehr auf den Schultern zu spüren für die vielen Themen, die man über die Jahre nie befriedigend lösen konnte. Es fühlt sich immer noch unwirklich an, trotzdem. Und man fühlt sich immer noch etwas schuldig – und sei es dafür, sich so schnell an die Abwesenheit zurückgelassener Menschen gewöhnt zu haben.

An manchen Tagen außerhalb des Home-Office, zwischen Wohnung und neuer Realität, verweile ich im Großen Garten und fotografiere “den Baum” im Wandel der Jahreszeiten. Von See, Laub, Wiese, Wasser inmitten der Großstadt geht eine intensive und befreiende Ruhe aus.

Medienzeugs.

Ruhe, die es in vielen Momenten braucht derzeit, auch wenn sie oft schwerfällt. Ich war erneut auf dem Weg in den Kaninchenbau sozialer Medien, der “großen” wie der “alternativen”, mit dem Versuch, den Knoten im Kopf aufzulösen. Und komme immer wieder an denselben Punkt: Die großen Netzwerke sind suspekt. Marktmacht. Lock-in und Netzwerk-Effekt. Tracking. Bestenfalls merkwürdiger Umgang mit Nutzerdaten. Aber eben auch die Orte, an denen sich zwischen all den Bots und Influencern und Manipulatoren, zwischen all den Product Placement und den Hochglanz-Accounts mit den endlos vielen “Followern” sehr viele Menschen mit verschiedenen Interessen, Themen, Gedanken tummeln. Und: Sicher Produkte, aber zumindest in Teilbereichen Produkte, die von Menschen gebaut werden, die jenseits organisatorischer Verortung als Individuen wollen, dass andere Menschen an ihrer Arbeit Gefallen finden, die Ergebnisse gern nutzen, davon begeistert sind oder mindestens nur irgendeinen Sinn für sich darin sehen. Wie viel die offenen, alternativen Netze in all diesen Bereichen leider aufzuholen haben, merkt man, wenn man versucht, sie wirklich zu nutzen….

(An dieser Stelle habe ich sowohl einen sehr langen ersten als auch einen zweiten, weniger langen Techie-Rant gelöscht. Persönliche Wahrnehmung unverändert: Auf bizarre und bittere Weise liegt es an “uns Techies”, dieses Problem zu lösen. Richtige “menschliche” Technologie werden wir nur bekommen, wenn wir “richtige Menschen”, die in der Mehrzahl nicht technik-affin und im Umgang mit diesen Werkzeugen eher pragmatisch sind, beobachten und uns von ihnen die Anforderungen diktieren lassen, die relevant sind – statt zu versuchen, ihnen unsere Agenda und unsere mehr oder weniger verschrobenen Präferenzen überzuhelfen. Seiteneffekt der großen Netzwerke, wie schlecht sie auch in mancher Hinsicht sein mögen: Niemand ist mehr auf den guten Willen des bärtigen Nerds von gegenüber angewiesen, um technisch handlungsfähig zu sein. Niemand wird und muss dankbar dafür sein, überhaupt etwas zur Hand zu bekommen, auch wenn es mit steiler Lernkurve, miserabler Usability, schlechter Verfügbarkeit verbunden ist. Die proprietären Dienste sind omnipräsent, schnell zu erlernen, leicht zu bedienen, meist 24×7 erreichbar – und Maß der Dinge ist hier nicht die weitestgehende Funktion des gesamten Netzes bei verkraftbaren Ausfällen einiger Teile, die wir von Diensten wie E-Mail aus den 1970ern kennen, sondern die Erreichbarkeit aller relevanten Nutzer und Dienste. Niemand wird dankbar für weniger sein, und selbst negative Randbedingungen wie Verzicht auf Datenschutz und Privatsphäre sind nur unschön, aber hinnehmbar, weil sie letztlich an der uneingeschränkten Verfügbarkeit der Dienste für Endnutzer nichts ändern. Wenn wir bessere Technologie wollen, müssen vor allem wir aus unserer Komfort-Zone treten, müssen wir hinter unseren schön konfigurierten Editoren, hinter den Monitoren mit den bunten Stickern und Bildchen, unseren liebgewonnenen Linux-Terminals, den sorgsam gestreichelten und gepflegten kleinen Spiel-Servern, hinter all dem schulmeisterhaften Diskurs über Protokolle, Standards, Dezentralisierung, Self-Hosting hervorkommen und die Aufgabe akzeptieren, Nutzer überzeugen zu wollen. Nutzer, die bestenfalls zu all dem keinerlei Emotionen, keinerlei persönliche Verbundenheit hegen – sondern nur schreiben, Fotos aufnehmen und teilen, mit Menschen kommunizieren wollen, die ihnen wichtig sind. )

Positive technische Erkenntnis der letzten Zeit: Mein Androide aus 2015 läuft immer noch. Wie angedeutet habe ich immer noch eine erfreulich große Menge an Apps durch Brave ersetzt, damit mehr Speicher für Fotos zur Verfügung, bekomme mehr Zeit mit derselben Batterie-Ladung. Einschränkungen in der Nutzbarkeit? Immer noch faktisch keine. Dafür spart es Zeit für immer wieder zeitraubende Aufgaben (etwa die Suche nach einem Twitter- oder Pixelfed-Client, den man tatsächlich verwenden kann). Und größerer positiver Effekt dieser Übung: Der Fokus auf mobilen Browser und mobile Websites löst auch zu einem guten Stück die Abhängigkeit von Plattformen wie Android oder iOS, die es für spezialisiertere Apps braucht. Vielleicht wird damit so etwas wie das PinePhone oder das Librem 5 irgendwann eine realistisch alltagstaugliche Lösung. Wünschenswert und notwendig wäre es allemal.

Herbstklang

Zu den Apps, die weiterhin bleiben, gehört ein Audio-Player. Nach wie vor ist das PowerAmp, den ich für Android vor Jahren gekauft habe und dem ich nach wie vor aus verschiedenen Gründen immer noch konsequent nutze. Mit dem Herbst und dem zugehörigen #bandcampfriday wechselt der Stimmungsfokus wieder einmal. Weniger rhythmische Elektronik, mehr (pseudo)organische Klänge. “Freedom And Loneliness” von Ugasanie bringt die beste Veröffentlichung seit langem auf Cryo Chamber. Kalter und intensiver Dark Ambient voller akustischer Umgebung, voller Geräusche und Klängen aus einer fremden Welt, die sich kaum fassen oder beschreiben lässt. Ähnliches in merklich heftigerer Ausführung, bietet “Зверь”, das Debüt von Offret aus Nizhny Novgorod: Dichter Post Black Metal, stimmungsvoll und intensiv geschrieben, ebenso dargeboten. Damit reiht sich das Trio in die in letzter Zeit lange Reihe exzellenter russischer Bands ein – dort, wo sich auch Second To Sun finden. “Leviathan” schafft wieder einmal gewohnt starken Black Metal mit nordischem Einschlag, rauh und trotzdem melodiös, effektiv orchestriert, und kitschig und klebrig zu klingen – und nebenher schafft die Band mit “I psychoanalyze my ghosts” meinen persönlichen Songtitel-Favoriten des Jahres. Daneben gehören dem Herbst immer wieder die üblichen Verdächtigen, eine Reise durch die Zeit mit Alben, die im späten Jahr am besten funktionieren. Fields Of The Nephilim. Hagalaz’ Runedance. The Gathering. Oder 3rd And The Mortal. Klassiker. In dieser oder jener Weise.

Alte Musik. Merkwürdige Normalität des Gestern in einem unverändert anderen Jahr. Wieder: Der Blick auf Zahlen. Exponentielles Wachstum. Merkwürdig, wissenschaftliche Begriffe zu sehen in einer Zeit, in der man den Eindruck gewinnt, Wissenschaft könnte in der Gesellschaft ferner nicht sein. Auf der einen Seite findet man jene, die auf Daten und Beobachtungen basierende Erkenntnisse mit Meinungen gleichsetzen und jeden Versuch der Widerlegung mit Verweis auf Meinungsfreiheit beliebig hart zurückweisen. Auf der anderen Seite finden sich jene, die wissenschaftliche Theorien als unumstößliche, absolute Wahrheiten misinterpretieren, diese quasi-religiös verteidigen und scheinbar außerstande sind, wissenschaftliche Methoden zu verstehen und anzuwenden. Methoden, die Widerspruch und Zweifel, Widerlegen und Überzeugen, Diskurs und Abwägen erfordern. Unversöhnlichkeit durchdringt und vergiftet alles bis in die Sprache, die zur Waffe wird, zum Werkzeug der Polarisierung und Spaltung. Mit verheerenden Konsequenzen: Wir stehen vor relevanten Problemen – einer Pandemie, Umweltzerstörung, einer zunehmenden Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Nord und Süd – und verlieren uns in punktuellen Diskussionen und Streitereien miteinander, halten uns unsere abweichenden Standpunkte, Bedürfnisse, Wertesysteme vor in bornierter Verständnislosigkeit und Verliebtheit in die eigenen Ideen, statt zu verstehen, was die anderen treibt, warum jene sprechen und handeln, wie sie es tun, und warum wir gut daran täten, diese Positionen ernst zu nehmen und zu respektieren. Wir verbrennen unsere Zeit in kleinem egoistischen Gegeneinander, in scharfen und möglichst fordernden Phrasen, die sich gut auf Plakaten lesen, aber (außer Widerspruch) nichts ändern. Vielleicht ist es eine Frage von Filterblasen und Wahrnehmung, aber manchmal habe ich den Eindruck, dass die Aktivisten ein genau so großes Problem wie all jene sind, die sie eigentlich überzeugen müssten – und dass wir vermittelnde, überzeugende, mitnehmende Kommunikation bei allen Technologien, die uns dafür zur Verfügung stehen, nicht wirklich im Griff haben. Vielleicht schließt sich hier der Kreis zur eingangs zitierten Technologie – und der Notwendigkeit, aus unseren Komfort-Zonen herauszutreten und die mutmaßlichen “Gegenspieler” verstehen und einzubeziehen lernen, um die tatsächlich großen Probleme unserer Zeit zu lösen…

Rückblenden und Nostalgie

Was bleibt noch in den letzten zwei Monaten? Eine große Zahl: 30 Jahre deutsche Einheit. Ich erinnere mich, anlässlich des 25jährigen Jubiläums des Mauerfalls einige Gedanken hier gelassen zu haben. Jetzt sind wir fünf, sechs Jahre weiter. Vieles davon könnte ich auch heute exakt wieder formulieren, also lass ich es. Konfrontation, andauernde Spaltung, verschiedene historische Wahrnehmungen, schwierige Sätze wie “es war nicht alles schlecht”. Politik ist ein dünnes Eis in diesen Tagen und das Internet ein denkbar ungünstiger Ort dafür. Eine neutrale und milde Erkenntnis könnte sein: Vielleicht sind wir an vielen Stellen viel zu ungeduldig, vielleicht brauchen Dinge Zeit. Vielleicht brauchen Menschen Zeit, um sich an sich ändernde Realitäten zu gewöhnen, umso mehr, je mehr diese alles in Frage stellen, was sie bis dato gelernt hatten, was ihr Leben geprägt hat, was ihnen im Alltag (vielleicht auch überlebens-)wichtig ist. Vielleicht sind die drei Jahrzehnte – für den Einzelnen schon relevant – im Kontext gesellschaftlicher Geschichte genau so verschwindend kurz wie in kosmischen Zeiträumen, nicht mehr als ein Wimpernschlag. Wieviel Unheil tun wir uns gegenseitig an, wenn wir einander nicht die Zeit lassen, die Teile von uns für Veränderungen brauchen, wenn wir glauben, zugunsten von Geschwindigkeit auf Erklärungen, Verständnis, Respekt füreinander verzichten zu können, weil ja letztlich irgendwann alle sehen werden, dass wir “im Recht waren”?

Im heutigen Leben gehört die Welt nur den Narren, den Grobschlächtigen und den Betriebsamen. Das Recht zu leben und zu triumphieren erwirbt man heute fast durch die gleichen Verfahren, mit denen man die Einweisung in ein Irrenhaus erreicht: die Unfähigkeit zu denken, die Unmoral und die Übererregtheit.

Fernando Pessoa, The Book Of Disquiet

Der Oktober schreitet voran genau wie der Abend, an dem ich diese Worte fasse, und es ist schwierig, an diesem Punkt eine sinnvolle Fortsetzung zu finden. Einmal mehr überlege ich, ob diese (nunmehr zwei-)monatlichen langen Ausführungen für irgendjemanden – mich eingeschlossen – mehr bringen, als sie Kraft kosten. Aber dem Umstand, dass diese Überlegungen monatlich wiederkommen, wohnt wohl auch eine beruhigende Kontinuität inne. Vielleicht ist es auch nur der Akt der Formulierung, der Fokus auf Texte und Bilder, der eine gewisse Befriedigung verschafft. Keine Ahnung. Vielleicht interessiert es mich auch nicht wirklich. 😉️ Kommt gut durch den ausklingenden Herbst, bleibt gesund und passt auf Euch auf. Bis zum nächsten Mal an dieser Stelle.

27. Oktober 2020

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